Mottos 2016 - Gerhard Engel

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Mottos 2016

 

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2016
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Motto des Monats

Kommentar

Dezember


„Eigentlich ist es ein Fehler, andere Leute mit dem zu langweilen, was man selbst denkt und fühlt. Wirklich lernen tut jeder zuletzt doch nur aus den eigenen Erfahrungen, und viele auch nicht einmal daraus."

                William von Simpson



Quelle:
von Simpson, William: Der Enkel. Roman.
Hamburg: Bertelsmann 1956, S. 254.


Dieses Zitat steht ‒ im Gegensatz zu den sonstigen hier kommentierten Zitaten ‒ in Anführungszeichen und verweist auf wörtliche Rede. Es stammt aus William von Simpsons Buch „Der Enkel", dem dritten und letzten Teil seines historischen Romans über das Schicksal einer ostelbischen Großgrundbesitzer-Familie, die in den Strudel der politischen und wirtschaftlichen Geschehnisse zwischen 1890 und 1950 gerät.
Der zitierte Satz wird von Baron Adrian von Kettelried geäußert ‒ einem väterlichen Freund des Protagonisten, der ihn in einer schwierigen Lebenssituation um einen Rat gebeten hatte. Das philosophische Problem lautet hier: Wie steht es grundsätzlich um Wert und Wirkung von Ratschlägen? Kettelried vertritt hier eine skeptische Position: Ratgeber laufen Gefahr, in ihren Rat Bewertungen und Einschätzungen einfließen zu lassen, die das Gegenüber nicht als hilfreich empfindet; und Ratsuchende wollen oft lediglich ihren inneren Monolog fortsetzen. Die Fähigkeiten, sachangemessenen Rat zu geben sowie aus den Erfahrungen eines Beratungsgesprächs zu lernen, sollte man aus seiner Sicht also nicht überschätzen.
Überraschenderweise gilt das sogar für Wissenschaft und Philosophie ‒ also Institutionen, in denen das Lernen aus Erfahrung als institutionalisiert gilt und in denen man von den Akteuren die ständige Bereitschaft zu Korrektur und Neuorientierung erwartet. Seit Thomas Kuhn wissen wir, dass diese Erwartung auch in der fortgeschrittensten Wissenschaft, der Physik, durchaus nicht immer erfüllt wird. Und das gilt erst recht für alle anderen Disziplinen: Man denkt allzu oft nur bis an den Rand von Traditionen ‒ aber nicht über sie hinaus.

November


Kann es sein, dass auch erklärte Menschenfreunde, Humanisten, Altru- isten egoistische Motive haben?


                     Peter Schneider


[Eintrag folgt]

Oktober


Physik ist nicht etwa deshalb mathematisch, weil wir so viel von der Welt wissen, sondern weil wir so wenig wissen: Wir haben lediglich ihre mathematischen Eigenschaften entdeckt.

                   Bertrand Russell


[Eintrag folgt]

September


Säkularisation ist Verlagerung theologischer Ansprüche.

      Henning Ottmann


Quelle:
Ottmann, Henning: Politische Theologie als Begriffsgeschichte.
In: Gerhardt, Volker (Hrsg.): Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe des politischen Handelns. Stuttgart: Metzler 1990, S. 169-188, hier: S. 177.


Der Prozess des Säkularisation wird meist uneingeschränkt als Fortschritt angesehen. In der Tat: Wir können inzwischen ohne ›kirchlichen Segen‹ heiraten, wir können, so sagt man, unsere Meinung sagen, ohne von Individuen oder Organisationen dafür bestraft zu werden, und staatliche Strukturen werden inzwischen nicht mehr nach dem Willen religiöser Autoritäten geformt, sondern (im Idealfall) nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, welche die wohlverstandenen Interessen aller Menschen zum Ausdruck bringen (sollen).
Erst recht die Erfolge der wissenschaftlichen Weltbetrachtung im Zeitalter der Aufklärung erweiterten bestimmte Handlungsspielräume des Menschen in einer Weise, wie sie zuvor nicht vorstellbar war: Menschen müssen sich beispielsweise nicht mit den Ressourcen begnügen, die ihnen ihre natürliche Umgebung bereitstellt, sondern sie können solche Ressourcen produzieren ‒ etwa Energie, Nahrung, Arzneien, Kommunikationsmöglichkeiten und letztlich sogar immer mehr Menschen. Da einige dieser Erfolge gegen den Widerstand mancher religiöser Institutionen erfochten werden mussten, haftet dem Begriff der Religion inzwischen etwas Veraltetes, ja sogar Doktrinäres an.
Doch angesichts der evolutionär geprägten Neigung zum religiösen Denken käme es einem andersgearteten Wunder gleich, wenn sich bestimmte theologische Denkfiguren nicht auch im ›säkularen‹ Zeitalter erhalten hätten. Die empirisch unzureichend geprüfte und  vermutlich ebenfalls metaphysische Behauptung, dass der Mensch, wenn er sich denn nur intellektuell und moralisch anstrengte, ein Zeitalter des ›Friedens‹ oder der ›Gerechtigkeit‹ heraufführen könne; oder dass er jemals die Probleme von Armut, sozialer Ungleichheit oder mangelnder Partizipation nachhaltig lösen werde ‒ all dies ist bei nüchterner Betrachtung der Realität eigentlich nicht zu erwarten. Aber unser Wunsch, dass sich dies alles erfüllen möge, ist offensichtlich immer noch höher als alle Vernunft. Und daher überrascht es nicht, dass manche Aktivisten der Deutschen Revolution von 1848 erwarteten, ›dass bald die Predigten der Pfaffen verstummen und die Führer der demokratischen Volksbewegung zu predigen anfangen und den Völkern Glück und Heil bringen würden.‹ Kurz: Der Säkularismus neigt dazu, außerweltliche durch innerweltliche Heilsversprechen zu ersetzen. Und damit stellt er tatsächlich nicht eine Überwindung, sondern eine Verlagerung theologischer Ansprüche dar.

August

Das Nationalgefühl hat seine Vorteile.

                      Paul Collier



Quelle:
Collier, Paul: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen.
München: Siedler 2014, S. 24.


Ein solcher Satz wird in einer politischen Kultur, in der immer öfter das Moralisieren die nüchterne Analyse ersetzt, Unbehagen auslösen. Kann das Nationalgefühl nicht auf eine Weise missbraucht werden, in der nur noch die Vorteile für die eigene Nation, nicht aber die Nachteile für andere Nationen in den Blick kommen? Und ist ein Nationalgefühl nicht mit der Idee des Weltbürgertums, wie sie auf Cicero und Kant zurückgeht, unvereinbar?
Versuchen wir, moralischen Eifer mit Hilfe analytischer Kategorien abzubauen. Nehmen wir das Beispiel Steuern. Sie dienen der Finanzierung kollektiver Güter wie saubere Luft oder innere Sicherheit, von deren Genuss man niemanden ausschließen kann, sofern sie einmal produziert sind, die aber kaum bereitgestellt werden würden, wenn man sich auf die Einzelnen verließe. Steuern dienen außerdem der Finanzierung von Clubgütern, wie sie das Gesundheitswesen, eine funktionierende Infrastruktur oder ein Sozialstaat darstellen, der Gelder zugunsten ärmerer Mitglieder der Gemeinschaft umverteilt. Im Gegensatz zu kollektiven Gütern erlauben es Clubgüter, andere von ihrer Konsumtion auszuschließen.
Mit der Produktion von Kollektivgütern und Clubgütern verleihen Nationalstaaten Rechte, die gerade die Armen begünstigen. Die jeweilige Gemeinschaft legt fest, wer zum Kreis der Begünstigten gehören soll und wer für die Finanzierung der Güter aufzukommen hat. Beides setzt Kooperationsbereitschaft voraus. Sie wird durch das Gefühl nationaler Identität gestärkt: Man ist im Rahmen des Nationalstaats eher bereit, sich über strittige Fragen zu einigen und eher bereit, für seine Landsleute Opfer zu bringen als für Menschen, mit denen man keine Sprache, keine Kultur oder keine Geschichte teilt. Die Verankerung im Nationalstaat stärkt außerdem die Legitimität der Besteuerung: Seine Mitglieder haben Möglichkeiten, über Art, Ausmaß und Zielsetzung der Besteuerung mitzubestimmen.
Eine Nation ist, so gesehen, nicht ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert, sondern ein gruppentheoretischer Optimalpunkt zwischen Familie und Weltgesellschaft: Familien sind zu klein, um die genannten Güter produzieren zu können, und Nationen tragen der Tatsache Rechnung, dass finanzielle Mittel nicht unerschöpflich sind und der Kreis der Begünstigten daher notwendigerweise irgendwie begrenzt sein muss. Kurz: „Nationen sind wichtige, legitime moralische Einheiten; tatsächlich sind es die Früchte erfolgreicher Nationalstaatlichkeit, die auf Migranten anziehend wirken." (S. 31)

Juli


Der Satiriker mag lachen, der Philosoph predigen die Vernunft aber wird die Vorurteile und Gewohnheiten respektieren, die durch die Erfahrung der Menschheit ihre Weihen erhalten haben.

                     Edward Gibbon


[Eintrag folgt]

Juni


Wir wissen sehr wenig, und doch ist es erstaunlich, dass wir überhaupt so viel wissen, und noch erstaunlicher, dass so wenig Wissen uns soviel Macht geben kann.

                      Bertrand Russell


 [Eintrag folgt]

Mai


Vielfalt, Heterogenität, Unterschiede sind der Stoff, aus dem der  Fort- schritt der Menschheit gemacht ist.


                       Ralf Dahrendorf


[Eintrag folgt]

April


Ich trete in die Kirche ein oder in eine aufgeklärte Glaubensgemeinschaft anderer Religionen; auch als Agnostiker. Diese Gemeinschaften halten die Gesellschaften zusammen, sie lehren die Tugenden des Umgangs: Höflichkeit, Freundlichkeit, Herzlichkeit. Sie bewahren mich vor dem Irrweg, alles besser zu wissen.


               Sabine Rückert


 [Eintrag folgt]

März


Wenn wir ein Ding lebend haben wollen, müssen wir ihm eine gewisse Freiheit einräumen, und wenn die Freiheit selbst eine gewisse Gefahr mit sich brächte.

                 Edward Carpenter


 [Eintrag folgt]

Februar


Die Frage ist, wie man Macht zähmt, nicht wie man sie beseitigt.

                      Ralf Dahrendorf


[Eintrag folgt]


Januar

Zur Lösung all unserer Fragen, einschließlich der allgemeinen, ist Arbeitsteilung erforderlich.

                   Ted Honderich

Quelle:
Honderich, Ted: Humanität und Terrorismus. Palästina, 9/11, Irak, 7/7.
Neu Isenburg: Melzer SEMITedition 2010, S. 13.


Menschen können individuelle und kollektive Entscheidungen treffen. Bei individuellen Entscheidungen geht es beispielsweise darum, ob man heute lieber Kaffee oder Tee zum Frühstück möchte. Bei kollektiven Entscheidungen geht es darum, nach welchen Regeln und in welchem Rahmen Menschen überhaupt individuelle Entscheidungen treffen dürfen. Wir können auf solche Regelsetzungen nicht verzichten, da ohne sie bereits der Straßenverkehr kaum noch funktionieren würde.

Wer aber setzt die kollektiven Regeln fest? Der Mythos der Demokratie, wie Rousseau ihn begründet hat, gibt folgende Antwort: Demokratie ist „Herrschaft des Volkes", und daher sind alle Bürger eines Gemein- wesens an kollektiven Entscheidungen direkt zu beteiligen. Doch in modernen Gemeinwesen, die sich aus Gründen knapper Zeit und großer Entfernungen nicht mehr unter Rousseaus Dorflinde versammeln können, müssen solche Entscheidungen repräsentativ getroffen werden – also durch Vertreter, die von allen Bürgern mit der Wahrnehmung ihrer Interessen für einen bestimmten Zeitraum beauftragt wurden. Politische Herrschaft wird so arbeitsteilig und temporär.
Doch moderne Gesellschaften produzieren auch Wissen über die Folgen von Regelsetzungen. Gerade in komplexen und interdependenten Gesellschaften, wo alle mit allen auf nur schwer durchschaubaren Pfaden miteinander verbunden sind, muss solches Wissen in politische Entscheidungsprozesse einfließen können, wollen die Bürger sich nicht selbst schädigen. Dieses Wissen wird ebenfalls arbeitsteilig produziert und kann auch nur auf arbeitsteilige Weise in die Entscheidungsfindung einfließen, da sich nicht alle um alles kümmern können. Um solches Wissen produzieren zu können, braucht man vor allem Freiheit – beispielsweise die Freiheit der Forschung und die Freiheit (auch nach) der Rede. Und daher kann man die Qualität demokratischer Entscheidungen daran messen, inwieweit sie derartige Freiheits- spielräume zulassen – oder blockieren.

Außerdem und nicht zuletzt ist Arbeitsteilung natürlich auch für die Produktion aller Güter und Dienstleistungen erforderlich, die eine moderne Gesellschaft ausmachen.

 
 
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